Klassifizierung der Verzerrungen

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# ÜBERBLICK ZUM ZWEITEN HAUPTKAPITEL #


$\text{Definition:}$  Unter  $\text{Verzerrungen}$  versteht man allgemein unerwünschte deterministische Veränderungen eines Nachrichtensignals durch ein Übertragungssystem.


Neben den stochastischen Störungen  (Rauschen, Nebensprechen, etc.)  sind solche deterministischen Verzerrungen bei vielen Nachrichtensystemen eine entscheidende Begrenzung für die Übertragungsqualität und die Übertragungsrate.

Dieses Kapitel bringt eine zusammenfassende Darstellung der Verzerrungen, insbesondere:

  • die quantitative Erfassung solcher Signalverfälschungen durch die Verzerrungsleistung,
  • die Unterscheidungsmerkmale zwischen nichtlinearen und linearen Verzerrungen,
  • die Bedeutung und Berechnung des Klirrfaktors bei nichtlinearen Systemen, sowie
  • die Auswirkungen linearer Dämpfungs– und Phasenverzerrungen.


Weitere Informationen zum Thema „Verzerrungen” sowie Aufgaben, Simulationen und Programmierübungen finden Sie im

  • Kapitel 6: Lineare zeitinvariante Systeme (Programm lzi)


des Praktikums „Simulationsmethoden in der Nachrichtentechnik”.  Diese (ehemalige) LNT-Lehrveranstaltung an der TU München basiert auf

  • dem Lehrsoftwarepaket  LNTsim   ⇒   Link verweist auf die ZIP-Version des Programms und
  • der hier verlinkten  Praktikumsanleitung    ⇒   Link verweist auf die PDF-Version; Kapitel 6:   Seite 99-118.


Voraussetzungen für das gesamte zweite Hauptkapitel


Beschreibung eines linearen Systems

Wir betrachten im Folgenden ein System, an dessen Eingang das Signal  $x(t)$  mit zugehörigem Spektrum  $X(f)$  anliegt.  Das Ausgangssignal bezeichnen wir mit  $y(t)$  und dessen Spektrum mit  $Y(f).$

Der mit „System” bezeichnete Block kann ein Teil einer elektrischen Schaltung sein oder ein komplettes Übertragungssystem, bestehend aus Sender, Kanal und Empfänger.


Für das gesamte Hauptkapitel „Signalverzerrungen und Entzerrung” soll gelten:

  • Das System sei  zeitinvariant.  Führt das Eingangssignal  $x(t)$  zum Signal  $y(t)$, so wird ein späteres Eingangssignal gleicher Form – nämlich  $x(t - t_0)$  – das Signal  $y(t - t_0)$  zur Folge haben.
  • Es werden  keine Rauschprozesse  betrachtet, die bei realen Systemen stets vorhanden sind.  Zur Beschreibung dieser Phänomene verweisen wir auf das  $\rm LNTwww$–Buch  Stochastische Signaltheorie.
  • Es werden  keine Detailkenntnisse  über das System vorausgesetzt.  Alle Systemeigenschaften werden im Folgenden allein aus den Signalen  $x(t)$  und  $y(t)$  bzw. deren Spektren abgeleitet.
  • Insbesondere seien vorerst keine Festlegungen hinsichtlich der  Linearität gegeben.  Das  „System”  kann linear  (Voraussetzung für die Anwendung des Superpositionsprinzips)  oder nichtlinear sein.
  • Aus einem einzigen Testsignal  $x(t)$  und dessen Antwort  $y(t)$  sind nicht alle Systemeigenschaften erkennbar.  Daher müssen  ausreichend viele Testsignale  zur Bewertung herangezogen werden.


Nachfolgend werden wir Übertragungssysteme diesbezüglich näher klassifizieren.

Ideales und verzerrungsfreies System


$\text{Definition:}$  Man spricht von einem  $\text{idealen System}$, wenn das Ausgangssignal  $y(t)$  exakt gleich dem Eingangssignal  $x(t)$  ist:

$$y(t) \equiv x(t).$$


Anzumerken ist, dass es ein solches ideales System in der Realität nicht gibt, auch wenn man die stets existenten, in diesem Buch aber nicht betrachteten statistischen Störungen und Rauschvorgänge außer Acht lässt.  Ein jedes Übertragungsmedium weist Verluste (Dämpfungen) und Laufzeiten auf.  Selbst wenn diese physikalischen Phänomene sehr klein sind, so sind sie jedoch niemals Null.  Deshalb ist es notwendig, ein etwas weniger strenges Qualitätsmerkmal einzuführen.

$\text{Definition:}$  Ein  $\text{verzerrungsfreies System}$  liegt vor, wenn folgende Bedingung erfüllt ist:

$$y(t) = \alpha \cdot x(t - \tau).$$

Hierbei beschreibt  $α$  den Dämpfungsfaktor und  $τ$  die Laufzeit.


Ist diese Bedingung nicht erfüllt, so spricht man von einem verzerrenden System.

$\text{Beispiel 1:}$  Die folgende Grafik zeigt das Eingangssignal  $x(t)$  und das Ausgangssignal  $y(t)$  eines zwar nicht idealen, aber verzerrungsfreien Systems.  Die Systemparameter sind  $α = 0.8$  und  $τ = 0.25 \ \rm ms$.

Beispielhafte Signale eines verzerrungsfreien Systems

Anzumerken ist:

  • Der Dämpfungsfaktor  $α$  kann durch eine empfängerseitige Verstärkung um  $1/α = 1.25$  vollständig rückgängig gemacht werden, doch ist zu berücksichtigen, dass damit auch etwaiges Rauschen angehoben wird.
  • Dagegen kann die Laufzeit  $τ$  aus  Kausalitätsgründen  nicht kompensiert werden.  Es hängt nun von der Anwendung ab, ob eine solche Laufzeit subjektiv als störend empfunden wird oder nicht.


Beispielsweise wird man selbst bei einer Laufzeit von einer Sekunde die (unidirektionale) TV–Übertragung einer Veranstaltung noch immer als „live” bezeichnen.  Dagegen werden bei bidirektionaler Kommunikation – zum Beispiel einem Telefonat – schon Laufzeiten von  $\text{300 ms}$  als sehr störend empfunden.  Man wartet entweder auf die Reaktion des Gesprächspartners oder beide Teilnehmer fallen sich ins Wort.

Quantitatives Maß für die Signalverzerrungen


Wir betrachten nun ein verzerrendes System anhand von Eingangs– und Ausgangssignal.  Dabei setzen wir zunächst voraus, dass außer den Signalverzerrungen nicht zusätzlich noch ein für alle Frequenzen konstanter Dämpfungsfaktor  $α$  und eine für alle Frequenzen konstante Laufzeit  $τ$  wirksam sind.  Bei den nachfolgend skizzierten Signalausschnitten sind diese Voraussetzungen erfüllt.

oben:  Ein– und Ausgangssignal eines verzerrenden Systems,
unten:  Fehlersignal  $\varepsilon(t) = y(t) - x(t)$ 

In der Grafik ist zusätzlich zu den Signalen  $x(t)$  und  $y(t)$  auch das Differenzsignal eingezeichnet:

$$\varepsilon(t) = y(t) - x(t).$$

Als quantitatives Maß für die Stärke der Verzerrungen eignet sich zum Beispiel der  $\text{quadratische Mittelwert dieses Differenzsignals}$:

$$\overline{\varepsilon^2(t)} = \frac{1}{T_{\rm M}} \cdot \int_{ 0 }^{ T_{\rm M}} {\varepsilon^2(t) }\hspace{0.1cm}{\rm d}t\hspace{0.4cm} \left( = P_{\rm V} \right).$$

Zu dieser Gleichung ist Folgendes anzumerken:

  • Die Messdauer  $T_{\rm M}$  muss hinreichend groß gewählt werden.  Eigentlich müsste diese Gleichung mit Grenzübergang formuliert werden.
  • Der oben angegebene quadratische Mittelwert wird oft auch als der „mittlere quadratische Fehler”  $\rm (MQF)$  oder als die  $\text{Verzerrungsleistung}$  $P_{\rm V}$  bezeichnet.
  • Sind  $x(t)$  und  $y(t)$  Spannungssignale, so besitzt  $P_{\rm V}$  die Einheit  ${\rm V}^2$, das heißt, die Leistung ist nach dieser Definition auf den Widerstand  $R = 1 \ Ω$  bezogen.


$\text{Definition:}$  Mit der  (auf  $R = 1 \ Ω$  bezogenen)  Leistung  $P_x$  des Eingangssignals  $x(t)$  lautet das  $\text{Signal–zu–Verzerrungs–Leistungsverhältnis}$:

$$\rho_{\rm V} = \frac{ P_{x} }{P_{\rm V} } \hspace{0.3cm} \Rightarrow \hspace{0.3cm} 10 \cdot \lg \hspace{0.1cm}\rho_{\rm V} = 10 \cdot \lg \hspace{0.1cm}\frac{ P_{x} }{P_{\rm V} }\hspace{0.3cm} \left( {\rm in \hspace{0.15cm} dB} \right).$$

Bei den in der oberen Grafik dargestellten Signalen gilt  $P_x = 4 \ {\rm V}^2$,  $P_{\rm V} = 0.04 \ {\rm V}^2$  und damit  $10 \cdot {\rm lg} \ ρ_{\rm V} = 20 \ \rm dB$.


Wir verweisen an dieser Stelle auf das interaktive Applet  Lineare Verzerrungen periodischer Signale.

Eliminierung von Dämpfungsfaktor und Laufzeit


Die auf der letzten Seite angegebenen Gleichungen führen dann nicht zu verwertbaren Aussagen, wenn zusätzlich ein Dämpfungsfaktor  $α$  und/oder eine Laufzeit  $τ$  im System wirksam ist.  Die Grafik zeigt das gedämpfte, verzögerte und verzerrte Signal

Eliminierung von Dämpfungsfaktor  $\alpha $ 
und Laufzeit  $τ$
$$y(t) = \alpha \cdot x(t - \tau) + \varepsilon_1(t).$$

Im Term  $ε_1(t)$  sind alle Verzerrungen zusammengefasst.  Man erkennt an der grünen Fläche, dass das Fehlersignal  $ε_1(t)$  relativ klein ist.

Sind dagegen die Dämpfung  $α$  und die Laufzeit  $τ$  unbekannt, so ist Folgendes zu beachten:

  • Das so ermittelte Fehlersignal  $ε_2(t) = y(t) - x(t)$  ist trotz kleiner Verzerrungen  $ε_1(t)$  relativ groß.
  • Anstelle der Verzerrungsleistung muss hier die Verzerrungsenergie betrachtet werden, da  $x(t)$  und  $y(t)$  energiebegrenzte Signale sind.
  • Die Verzerrungsenergie erhält man, in dem man die unbekannten Größen  $α$  und  $τ$  variiert und auf diese Weise das Minimum des mittleren quadratischen Fehlers ermittelt:
$$E_{\rm V} = \min_{\alpha, \ \tau} \int_{ - \infty }^{ + \infty} {\big[y(t) - \left(\alpha \cdot x(t - \tau) \right) \big]^2}\hspace{0.1cm}{\rm d}t.$$
  • Die Energie des gedämpften und verzögerten Signals  $α · x(t - τ)$  ist unabhängig von der Laufzeit  $τ$  gleich  $E_{\rm V} = α^2 · E_x$.  Für das Signal–zu–Verzerrungs–Leistungsverhältnis gilt somit:
$$\rho_{\rm V} = \frac{ \alpha^2 \cdot E_{x}}{E_{\rm V}}\hspace{0.3cm}{\rm bzw.}\hspace{0.3cm}\rho_{\rm V}= \frac{ \alpha^2 \cdot P_{x}}{P_{\rm V}} .$$
  • Die erste dieser beiden Gleichungen gilt für zeitlich begrenzte und damit energiebegrenzte Signale, die zweite für zeitlich unbegrenzte, also leistungsbegrenzte Signale entsprechend der Seite  Energiebegrenzte und leistungsbegrenzte Signale  im Buch „Signaldarstellung”.

Lineare und nichtlineare Verzerrungen


Man unterscheidet zwischen linearen und nichtlinearen Verzerrungen:

Ist das System linear und zeitinvariant  $(\rm LZI)$, so wird es vollständig durch seinen  Frequenzgang  $H(f)$ charakterisiert, und es lässt sich Folgendes feststellen:

  • Entspechend der  $H(f)$–Definition gilt für das Ausgangsspektrum:   $Y(f)=X(f) · H(f)$.   Daraus folgt nach den Rechenregeln der Multiplkation, dass  $Y(f)$  keine Frequenzanteile beinhalten kann, die nicht schon in  $X(f)$  enthalten sind.
  • Die Umkehrung besagt:   Das Ausgangssignal  $y(t)$  kann jede Frequenz  $f_0$  beinhalten, die bereits im Eingangssignal  $x(t)$  enthalten ist.  Voraussetzung ist also, dass  $X(f_0) ≠ 0$  gilt.
  • Bei einem LZI–System ist die absolute Bandbreite  $B_y$  des Ausgangssignals nie größer als die Bandbreite  $B_x$  des Eingangssignals:   $B_y \le B_x .$


$\text{Fazit:}$  Die Unterschiede zwischen linearen und nichtlinearen Verzerrungen sollen anhand einses Schaubildes verdeutlicht werden:

Lineare und nichtlineare Verzerrungen

In der oberen Grafik gilt  $B_y = B_x$.  Es liegen  lineare Verzerrungen  vor, da sich in diesem Frequenzband  $X(f)$  und  $Y(f)$  unterscheiden.

Eine Bandbegrenzung  $(B_y < B_x)$  ist eine Sonderform linearer Verzerrungen, die im  übernächsten Kapitel  behandelt werden.


Die untere Grafik zeigt ein Beispiel für  nichtlineare Verzerrungen  $(B_y > B_x)$.  Für ein solches System kann kein Frequenzgang  $H(f)$  angegeben werden.

Welche Beschreibungsgrößen für nichtlineare Systeme geeignet sind, wird im nächsten Kapitel  Nichtlineare Verzerrungen  dargelegt.


  • Bei den meisten realen Übertragungskanälen treten sowohl lineare als auch nichtlineare Verzerrungen auf. 
  • Für eine ganze Reihe von Problemstellungen ist jedoch die klare Trennung der beiden Verzerrungsarten essentiell. 
  • In  [Kam04][1]  wird ein entsprechendes Ersatzmodell angegeben.


Wir verweisen hier auf das Lernvideo  Lineare und nichtlineare Verzerrungen .

Aufgaben zum Kapitel

Aufgabe 2.1: Linear? - Nichtlinear?

Aufgabe 2.1Z: Verzerrung und Entzerrung

Aufgabe 2.2: Verzerrungsleistung

Aufgabe 2.2Z: Nochmals Verzerrungsleistung



Quellenverzeichnis

  1. Kammeyer, K.D.:  Nachrichtenübertragung.  Stuttgart: B.G. Teubner, 4. Auflage, 2004.